Autorin Kerwien: KB-Kurzweiliges 21-05

Betti „Der letzte Blick“

Kurz nach vier Uhr morgens weht der Wind scharf vom Hudson. Alle Spelunken haben geschlossen. Nur der namenlose Diner auf dem Dreieck, an dem die Greenwich auf die Seventh Avenue einmündete, leuchtet wie eine Ausstellungsvitrine.

Jadegrüne Holzfassade, gebogene Glasscheiben, menschengemachtes zinkweißes Licht.
Drei Gäste sitzen an einer geschwungenen Kirschholztheke vor ockergelben Wänden. Mit dem Rücken zur Straße ein Mann mit einem stahlgrauen Hut, ihm gegenüber ißt ein Pärchen ein Sandwich.

Der Diner ist wie dafür gemacht, daran vorbei zu gehen. Ich gehe trotzdem hinein.
»Neu hier?«, fragt der Schankkellner.

Ein Comeback ist ein Comeback, egal von woher. Ich bestelle Kaffee und eine 5-Cent-Zigarre.
»Man sitzt hier wie im Aquarium«, sage ich und rutsche auf den Barhocker neben den Mann mit dem finsteren Rücken.

»Neonlicht.« Der Mann zeigt auf die Leuchtstoffröhren.
Ich schneide die Zigarre an, reiße eine Streichholz über meine Ledersohle. Der dreckige Tabakqualm beißt in den Augen.

»Verdammt hell, dieses neue Licht«, sagt der Mann.
Ich lasse das so stehen. Der Kerl trägt ein sauberes blaues Hemd und eine Nase, scharf wie ein Falkenschnabel.

»Wenn Sie jetzt die Augen schließen«, fährt er fort, »sehen Sie den Diner vor Ihrem Inneren Auge nochmal. Nur das, was hell ist, erscheint dann dunkel, und umgekehrt. Man nennt das ein Nachbild.«

»Sie sind Augenarzt?«, frage ich.
»Ophthalmologe«, sagt der Mann und erhebt sich kurz. »Dr. Alexandridis.«
Ich tippe mir an die Hutkrempe. »Klingt kompliziert«, sage ich.

»Kennen Sie sich in Kriminalistik aus?«
»Ich lebe davon«, sage ich.
»Dann wird es Sie interessieren, dass ich an einer neuen Methode arbeite. Wir nennen es Opthografie. Der letzte Blick des Ermordeten wird im Moment des Todes auf der Netzhaut fixiert. Wir präparieren die Retina und erhalten ein Foto des Mörders.«
»Wenn‘s so einfach wär«, sage ich.

»Das Auge ist die perfekte Kamera«, erwidert der gute Doktor. Seine lange Nase wird noch länger. »Das lichtempfindliche Pigment, das sogenannte Sehpupur in den Sehzellen der Netzhaut, zerfällt unter Einfluss von Lichtenergie. Diese Reaktion erzeugt den elektrischen Sehreiz. Der Zellstoffwechsel fügt die Teile dann wieder zusammen und der Prozess geht von vorn los. Es sei denn, man unterbricht die Blutzufuhr.«
»Durch Köpfen, zum Beispiel«, sage ich.

Der Doktor nickt. »Den Kopf unterhalb der medulla oblongata abtrennen«, lächelt er. »Nach drei Minuten zeigt der menschliche Körper keine Reflexe mehr.«
»Das ist nur an Fröschen experimentell erwiesen«, sage ich.

»Man muss einen Schritt weitergehen!« Der Arzt drückt seine Zigarette aus. »Sie müssen die präparierten Augen eines Mordopfers 24 Stunden in einer Kalium-Alaun-Lösung einlegen. Danach mit Kochsalz spülen, die Netzhaut entnehmen und auf weiße Porzellankugeln aufziehen.«
Auf der anderen Seite des Tresens rutscht die Frau mit dem Sandwich lautlos vom Barhocker.
»Wir haben die Porzellankugeln in Ihrem Labor gefunden«, sage ich und fingere in der Anzugtasche nach den Handschellen. »Glückwunsch. Das Opthogramm, das den Mörder zeigt, war intensiv und scharf begrenzt. Was würden Sie sagen – was war darauf zu erkennen?«
»Meine Nase«, seufzt Dr. Alexandridis.

Die Handschellen klicken.

Schrifstellerin Bettina Kerwien – www.bettinakerwien.de
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Foto: Schrifstellerin Bettina Kerwien


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